09. September 2022: Tag des alkoholgeschädigten Kindes

Der internationale Tag des alkoholgeschädigten Kindes macht auf die schwerwiegenden und dauerhaften Auswirkungen von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft aufmerksam.
Im Rahmen des social Media Projektes DrugPrev.mtk wurde anlässlich des Aktionstages ein Interview mit der Psychologin Frau Gottschling von der JJ-Jugendhilfeeinrichtung Eltern-Kind-Haus „Weitblick“ zum Thema FASD geführt.

09. September 2022: Tag des alkoholgeschädigten Kindes

Jährlich kommen in Deutschland über 10.000 Kinder mit Alkoholschädigungen zur Welt. 10.000 Kinder – jedes Jahr – die für den Rest ihres Lebens gekennzeichnet sind und je nach Schweregrad der Störung, nie in der Lage sein werden, ein selbständiges Leben zu führen. Diese Störungen werden als „Fetal Alcohol Spectrum Disorders-FASD“ (Fetale Alkoholspektrum Störungen) zusammengefasst. Körperliche Missbildungen und Minderwuchs, geistig-intellektuelle sowie soziale und emotionale Störungen sind die Folge des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft.

DrugPrev.mtk: Das Haus Weitblick ist keine Spezialeinrichtung für Kinder und Jugendliche mit FASD, aber welche Berührungspunkte habt ihr mit diesem Thema?
Haus Weitblick: Stimmt. Die Mütter und/oder Väter kommen in unser Eltern-Kind-Haus, weil sie Anleitung und Hilfe im Betreuungsalltag mit ihren Kindern brauchen. Immerhin hat der geschulte Blick des Fachteams aber schon zweimal zu einer bestätigten FASD-Diagnose geführt. Damit werden plötzlich so viele Schwierigkeiten verständlich, für alle. Bei noch einer weiteren Mutter und drei anderen Kindern erhärtete sich der Verdacht auf FASD. Die Diagnostik haben wir aber nicht mehr begleiten können, weil die Familien vorher ausgezogen sind.

DrugPrev.mtk: Wie äußert sich FASD bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen?
Haus Weitblick: Betroffene Babys haben oft Probleme mit dem Schlafen und Trinken. Sie schreien viel und haben Schluckstörungen. Als Kleinkinder fallen sie dann auf, weil sie sich langsamer entwickeln (z.B. beim Sprechen). Und schon in der Kita, erst recht später in der Schule, manövrieren sie sich völlig ungewollt ins Abseits: sie stören, werden schnell aggressiv; sie können sich schlecht konzentrieren, sich nichts merken, sind total naiv. Noch dazu sieht man ungefähr jedem fünften FASD-kranken Kind am Gesicht an, dass irgendetwas nicht stimmt. Kein Wunder, dass Betroffene häufig zum Mobbingopfer werden.

DrugPrev.mtk: Und wie ist das bei den Betroffenen im Erwachsenenalter?
Haus Weitblick: Da FASD sich nicht verwächst, sind auch Erwachsene noch mit FASD mit ihrem Alltag maßlos überfordert. 80 % schaffen es nie, selbständig zu wohnen. Das Leben mit der Erkrankung ist unglaublich anstrengend für sie, genauso wie für ihre (Adoptiv-)Eltern, Geschwister, Lehrer, Betreuer …

DrugPrev.mtk: Was ist die besondere Herausforderung im Umgang mit FASD-Betroffenen?
Haus Weitblick: Eine besondere Herausforderung ist es, die Diagnose zu finden. Erst dadurch wird klar, dass wir es mit einer unheilbaren geistigen und körperlichen Behinderung zu tun haben. Für die FASD-diagnostizierte Mutter in unserem Haus z.B. kam die Diagnose als große Erleichterung. Endlich wusste sie, warum sie schon immer irgendwie anders und alles so anstrengend war, auch im Umgang mit ihrem Kind. Sie wird einen Antrag auf Schwerbehinderung stellen. Und das zweijährige Kind, für das sich unser Verdacht auf FASD bestätigt hatte, bekommt jetzt Frühförderung. Die heilt nicht, aber sie hilft. Das macht Mut und Freude mitzuerleben. Je früher die FASD-Diagnose steht, desto passender die Hilfen danach und die Aussichten für die Zukunft Betroffener.

DrugPrev.mtk: Was wisst ihr über den Alkoholkonsum der Mütter während der Schwangerschaft?
Haus Weitblick: Wenn ihr den Alkoholkonsum der Mütter in Deutschland meint, dann wissen wir, dass zurzeit noch mehr als jede vierte Schwangere Alkohol trinkt - in geringen bis riskanten Mengen.
In unserer Arbeit im Haus Weitblick haben uns die ersten Erfahrungen mit dieser unsichtbaren Behinderung wachgerüttelt. Inzwischen versuchen wir jede Mutter einmal auf das Thema Alkohol in der Schwangerschaft anzusprechen: ob sie selbst getrunken hat, ob ihre Mutter getrunken hat. Das Letzte, was wir dabei erreichen wollen, ist zu beschämen oder Schuld zuzuweisen. Z.B. wissen wir jetzt, dass zwei der drei Mütter mit FASD-auffälligen Kindern als Schwangere ohne Bedenken gefeiert hatten und fast zufällig erst im 4./5. Monat erfuhren, dass sie ein Kind erwarteten. Das passiert leicht, z.B. bei unregelmäßiger Monatsblutung, bei anderen Unterleibsproblemen. Der anderen Mutter war einfach nicht klar, wie schädlich Alkohol - auch die kleinste Menge - für das Ungeborene sein kann.

DrugPrev.mtk: Welche Ärzte und Einrichtungen gibt es denn in unserer Umgebung, die diagnostizieren und weiterhelfen können?
Haus Weitblick: Für eine zuverlässige FASD-Diagnostik braucht es immer ein Expertenteam aus mehreren Gesundheitsberufen. Die findet man an FASD-Kompetenzzentren. Noch gibt es zu wenige. In Hessen sind das:

für Kinder


für Erwachsene (das nächste erst in NRW)


Es lohnt sich übrigens immer, bei der Suche nach Diagnosezentren auf der Homepage von „FASD Deutschland e.V.“ nach der aktuellen Adressliste zu schauen. Weil die Nachfrage nach FASD-Diagnostik steigt, entstehen jetzt überall in Deutschland neue Standorte.

DrugPrev.mtk: Gibt es sonst noch etwas zu dem Thema, was ihr loswerden wollt?
Haus Weitblick: FASD-krank ist und bleibt man. Die Krankheit ist nicht heilbar, aber als einzige Krankheit zu 100 % vermeidbar. Es gibt keine sichere Menge Alkohol in der Schwangerschaft. Sicher sein heißt: Kein Schluck, kein Risiko!

Diesen Artikel als pdf anzeigen

[zurück]

Inhaltsübersicht